Bauen wir am Paradies?
Stell dir vor, du würdest einem Menschen, der hier vor 500 Jahren gelebt hat, etwas über unsere heutigen Möglichkeiten erzählen? Du berichtest vom Fliegen, davon dass es überhaupt kein Problem mehr ist, in wenigen Stunden an sonnigen Stränden zu liegen, und dass man sich für den Flug dorthin noch nicht einmal Flügel anschnallen muss. Du erzählst, wie einfach es ist, im Winter Erdbeeren und im Sommer kaltes Eis zubekommen, dass sich jederzeit jeder mit jedem per Smartphone unterhalten kann, über Ländergrenzen hinweg. Und das auf Knopfdruck oder durch einfaches Aussprechen des Namens. Du erklärst, dass man Musik jetzt immer bei sich tragen kann, alle Lieder der Welt, direkt ins Ohr, und dass man Bilder machen kann, die bewegt sind und die sogar verschicken lassen. Du erzählst vom Fernsehen, vom Internet, von Zentralheizungen und von Energiesparlampen, von Ultraschalluntersuchungen im Mutterleib und von Verhütungspillen, vom eigenen Auto und von EC-Automaten, die Geld ausspucken, wenn man welches braucht.
„Kommst du aus dem Paradies?“ wird man dich fragen.
„Nein, eigentlich nicht“, würden wohl die meisten stirnrunzelnd antworten. Um es als Paradies zu bezeichnen, gibt es wohl noch viel zu viel Stress und Gewalt - und jetzt noch diese Corona-Krise. All die schönen Dinge kann man sich auch nur leisten, wenn man dafür viel arbeitet, dabei keine Fehler macht und sich nicht übers Ohr hauen lässt.
Aber vielleicht ist doch etwas daran? Für mich bleibt es auch trotz Covid-19 paradiesisch. Ich sitze hier warm und trocken mit vollem Kühlschrank, kann meinen Mitmenschen schreiben was mir so durch den Kopf geht und spüre ganz deutlich, dass wir aus diese Kriese gestärkt hervorgehen und hinterher alles noch paradiesischer wird. Nein, auch mein jetziges Leben würde ich äußerst ungerne gegen die Verhältnisse des Mittelalters eintauschen oder ein Leben in noch früheren Zeiten. Alleine schon die Vorstellung, dass wieder Frisöre für meine Zahnbehandlung zuständig wären, macht mich äußerst skeptisch. Ja, es ist paradiesisch und wird ständig paradiesischer, und das mit in einer rasenden Geschwindigkeit. Dieser Prozess scheint aber noch längst nicht abgeschlossen und gleicht immer auch einer riesigen Baustelle.
Aber wann begann diese „Paradiesierung des Lebens“? In der jüdisch-christlichen Mythologie wird beschrieben, dass es schon einmal ein vollendetes Paradies gegeben haben soll. Sein Ende war der Anfang unseres jetzigen, entbehrungsreichen Lebens – ausgelöst durch einen banalen „Biss in eine verbotene Frucht“. Adam und Eva gewannen hierdurch die Erkenntnis von „Gut“ und „Böse“, eine Erfahrung, die ihnen wohl vorher nicht zugänglich, also nicht Bestandteil des Paradieses war? Sicher ist aber, wer „Gut“ und „Böse“ trennt, also Grenzen zieht, kann in diesem Moment dessen Ungetrenntheit und damit die Ganzheit nicht mehr wahrnehmen.
War unser verlorenes Paradies ungeteilte Ganzheit?
Auch die Physik scheint hier Parallelen zu sehen. Laut der Wissenschaft begann alles mit einem Urknall, aus dem Zeit, Raum und Materie hervorgingen. Vorher schien alles grenzenlos in einem winzigen Punkt vereint. In diesem Zustand war alles dasselbe wie das Nichts.
Ist unser Paradies schlagartig durch die vielen plötzlich auftauchenden Grenzen in unzählige Stücke zerbrochen? Ersehnen wir seitdem diese verlorene Ganzheit zurück? Begann vielleicht schon direkt nach dem Urknall auch das große Projekt des „Zusammenfügens“ – Wunsch für Wunsch – Puzzlestück für Puzzlestück, um die vielen Grenzen wieder aufzulösen? Lautete der erste Wunsch eventuell: „Schwerkraft“ für eine „Verklumpung“ der Materie, um wieder erste Teile von grenzfreier Ganzheit zu erzeugen? Und gleich der nächste Wunsch: „Kernfusion“ – das Einschmelzen von Grenzen für höhere Materie und Sonnenlicht? Und: „es ward Licht ...“? Sind wir vielleicht seitdem ständig auf der Suche nach den besten Rezepten dieser einstmals schönsten, ganzheitlichen Zusammensetzung?
Es ist aber nicht nur eine Suche, sondern auch ein ständiger Kampf. Die Aufgabe lässt uns nicht ruhen! Sobald wir untätig werden, endet unser Glückserleben. Ein beglückendes Empfinden gibt es nur im Moment des Auflösens von Begrenzung - für also für "frische Erfahrungen". Große Rückschritte, so wie die Einschränkungen jetzt durch Covid-19 lassen uns sogar schmerzlich leiden. Wir streiten um die besten Rezepte und spüren immer deutlicher, dass wohl einfach alles zusammengehört und dass alles, was lebt, dieselbe Sehnsucht in sich trägt und das gleiche „Montageziel“ verfolgt – angefangen von den Pionieren des Lebens über Pflanzen und Tiere bis hin zu uns Menschen.
Zu Beginn dieser Erfahrungsverkettung ging es darum, überhaupt erst einmal Materie (Grenzen) zu bewegen – und das nur durch die kleinen Energien von Gedanken und Wünschen. Dinosaurier waren eine zauberhafte Übung dieses Prozesses (Alias Evolution), große Mengen Material geordnet zu bewegen.
Aber es geht nicht nur um die Erfahrung der Mobilität, sondern auch um Ästetik und Harmonie. Alle Pflanzen und Tiere haben nie etwas anderes im Sinn gehabt, als selbst immer zweckdienlichere Ordnungen für ein immer vielfältigeres Erleben zu schaffen. Wer sich den Aufbau von Mineralen und Kristallen anschaut, findet selbst dort Harmonien, die uns selbst zugrunde liegen. Wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, wird man das Gefühl nicht los, dass überall die gleichen Kräfte und Sehnsüchte am Werk sind wie in uns selbst. Wir unterscheiden uns von diesen frühesten Paradies-Baupionieren wahrscheinlich nur dadurch, dass wir uns dieser Entwicklung langsam selbst bewusst werden. Wir wissen nun, worum es geht und haben die Möglichkeit, uns das gegenseitig mitzuteilen. So können wir diesen Prozess in ganz neue Dimensionen führen. Es ist ein Weg mit einer immer schneller wachsenden Flut an erlebbaren Erfahrungen, aber auch ein ständiges Suchen nach den dafür noch besseren Rezepten, und das nicht ohne Schwierigkeiten. Die Suche führt uns zuweilen auch auf Irrwege und immer wieder mal in unglückliche Richtungen. Sollten wir Menschen es mal richtig „vermasseln“, werden Tiere, Pflanzen, Bakterien, Mikroben oder irgendwelche anderen „Lebenskrümelchen“ irgendwo in den gigantischen Weiten dieses Universum für einen Neuanfang sorgen. Unsere ErLebens-Versicherung?
Klar, gerade die Absicherung dieses Prozesses wird scheinbar ganz und gar nicht dem Zufall überlassen und steckt ganz tief in den Genen der Evolution. Wenn wir die Erde mit ihren vielen neuen erlebbaren Errungenschaften betrachten, finden wir daneben auch immer noch das Althergebrachte. Wir können mit modernen Flugzeugen reisen, aber zur Not auch noch den Esel benutzen. Die alten Methoden werden gehegt und gepflegt – ganz automatisch, weil nicht alle gleichzeitig das Neueste haben und nutzen können und aus Nostalgie. Aber auch weil wir deutlicher spüren, wie schön und wichtig die alten Wurzeln für uns sind. Wir erkennen die Fundamente unseres Seins und die sie bedrohenden Risiken.
Die Türen des Paradieses öffnen sich nur sehr langsam, und vermeintlich sehr ungerecht - nicht für alle Menschen gleichzeitig. Aber genau so scheint alles einen Sinn zu ergeben!