Gewalt, Täuschung und Manipulation
Nicht nur der Tod, sondern auch Gewalt ist ein fester Bestandteil der Evolution – oder besser: des Entwicklungsweges für Erleben. Unsere Körper und die aller anderen Lebewesen dienen möglicherweise nur dazu, erlebnistechnisch immer interessantere Erfahrungshorizonte zu erschließen. Daher standen sie schon sehr früh im heftigen Wettstreit zueinander. Schaut man in einen Urwald, herrschen dort beständig Mord und Todschlag – absolut normal und ganz selbstverständlich. Alte Erlebnisapparate werden hier umweltfreundlich entsorgt. Ständig kommen neue, interessante „Modelle“ hinzu, um dann wieder zu vergehen für immer komplexere Erfahrungswelten im Hier und Jetzt. Es ist also ein immerwährender Wettstreit um die besten Rezepte, in dem jedes Erlebe-Wesen ständig den eigenen erlebnistechnischen Nutzen beweisen und gegen die Konkurrenz verteidigen muss. Aber gerade auch dieser Kampf scheint erlebenswert und bereichernd zu sein.
Wir Menschen produzieren momentan die größte Erlebnisvielfalt zu. Wir haben uns gegen viele Spezies durchgesetzt, die uns im Wege standen. Auf der anderen Seite pflegen wir alles, was unseren stetig wachsenden Erfahrungshunger füttern könnte – inzwischen sogar Wölfe und Bären, die wir vor wenigen Jahrzehnten noch als erlebnisbehindernde Konkurrenten verfolgten.
Menschen schaffen es immer öfter, auf die klassische, gegeneinander gerichtete Gewalt zu verzichten, weil diese ihrem wachsenden Erlebnisdurst zunehmend im Wege steht. Seit über siebzig Jahren gab es in Deutschland keinen Krieg mehr.
Generell ist und bleibt die verdrängende Gewalt jedoch ein fester Bestandteil und ein legitimes Mittel der Evolution zur Produktion höherer Erlebnisqualitäten, die aber zunehmend von anderen Varianten abgelöst wird. Die Täuschung und die Manipulation sind wahrscheinlich genauso alte Mittel, um die gleichen Ziele zu erreichen. Ein Tiger trägt ein Streifenmuster, das ihn im Wald fast unsichtbar macht. Eine Gottesanbeterin tarnt sich als Zweig, um dann unsichtbar zuzuschlagen. Und ein Kuckuck legt sein Ei in die Nester anderer Vögel – ganz ohne Gewalt.
Wir Menschen leben inzwischen in einer Informationsgesellschaft und regeln die Verteilung unserer Erlebnisrechte zunehmend durch Kommunikation und Gesetze. So wie jeder Mensch, hat auch die Gesellschaft ein subjektives Bild von sich. Als demokratisches Volk glauben wir an einen gerechten Verteilungsschlüssel, an den Sinn einer freien, sozialen Marktwirtschaft mit ihren Regeln und Gesetzen und daran, dass es in diesem System jeder schaffen kann.
Normal erscheint uns auch, dass die zu Wohlstand gekommenen zu schützen sind, und diejenigen, die von unten her zuarbeiten und es nicht nach ganz oben schaffen, zumindest ein sicheres Auskommen erlangen und so trotzdem ein wenig am Erleben teilhaben können. Alle beteiligten Interessengruppen stehen erlebnistechnisch im Wettbewerb und versuchen dieses Bild zu beeinflussen. Sie wirken zum Beispiel durch Argumente, aber auch durch Täuschung und Manipulation auf den Verteilungsschlüssel, um sich größere Kontingente von Erlebnismöglichkeiten zu sichern.
Zurzeit sammeln sich die Nutzungsrechte der Erlebnismöglichkeiten in einer immer kleineren Oberschicht an. Die vielen, von der wachsenden Erlebnisfülle Abgetrennten (Arbeitslosen, Geringverdiener usw.) empfinden das als Ungerechtigkeit und wollen nicht mehr so recht mitmachen. Es macht sich Unmut breit. Wenn sie „Lügenpresse“ schreien, ist da durchaus etwas dran. Aber nicht, dass die Medien wirklich absichtlich lügen würden. Es ist eher so, dass die Regeln der Reichen und mächtigen „Großerleber“ so dominant verbreitet werden, dass nur sehr selten über Alternativen berichtet wird. Standard ist: „Glaubt und haltet euch an die abgesprochenen gesellschaftlichen Regeln, sonst geht alles den Bach runter – und ihr ganz vorneweg.“ Das hat nichts mit klassischer Gewalt zu tun, sondern ist eher ein modernes Kuckucksei. Fest steht, dass wenn alle wieder mit eingebunden werden (vielleicht hilft uns Corona dabei?), eine Steigerung des Erlebens für alle möglich sein müsste, und zwar sowohl für die erlebnistechnisch sicherlich wichtige Oberschicht, als auch für den „Otto-Normalerleber“, der gerne etwas für sich, aber auch für sein „erweitertes Ich“ tut (Raumfahrt, Gesundheitsforschung, Entwicklungshilfe, Autobahnen, Helene Fischer, die Geissens, Bayern München, Bill Gates usw.). Das tut er aber nur dann, wenn er sich genügend eingebunden, ernstgenommen und geachtet fühlt, so dass er selbst weiter einen Sinn für sich erkennt, mitzumachen. Oder wenn er mit Gewalt dazu gezwungen wird – so wie in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen.